Januar 2023

Transparenz, Verantwortung und Gerechtigkeit

In der heutigen Zeit, wo jeder schreibt, aber keiner mehr liest, gibt es doch immer wieder auch Hoffnungszeichen. Diese seltenen Lichtblicke zeigen allerdings, dass Lesen in Wirklichkeit gar nicht so einfach ist. Die intensive Beschäftigung mit einem lohnenden Text ist eine privilegierte Situation, in der der Leser aus seinem eigenen beschränkten Umfeld heraustreten muss um sich von einem imaginären Standpunkt aus, gleichsam von außerhalb des Lebens, neue Kategorien zu erschließen. Je besser der Text, desto mehr von sich selbst muss der Leser vernachlässigen – bei richtig guten Texten bleibt da eigentlich nur die jahrelange Einzelhaft im Hochsicherheitstrakt. Tatsächlich kommt dann sogar das Schreiben wieder zu seinem Recht: wenn Leser sich über ihre Leseerfahrungen austauschen – und andere von diesem Austausch berichten.

 

So geschehen vor zehn Jahren, als Anwar Ibrahim, seit Ende November 2022 neuer Ministerpräsident von Malaysia, von Julian Assange interviewt wurde. „Wie haben Sie überlebt?“ fragt Assange und hebt lächelnd den Daumen, als Ibrahim aufzählt: die komplette Shakespeare-Werkausgabe („4 einhalb-mal“), Boris Pasternak, Tolstoi. Es sei eine intensivere Leseerfahrung in den Gefängnismauern, man versenkt sich viel tiefer in die Geschichten, fährt er fort. „Manchmal ist es natürlich etwas deprimierend, dabei auf die Mauern schauen zu müssen“ – aber man wird zu einem Teil des Werks und nimmt Neues in schon längst bekannten Büchern wahr. „Ich hatte den Dialog von König Lear mit Cordelia noch nie vorher wirklich verstanden“, berichtet Ibrahim, und Assange erwidert: „Ich habe `Krebsstation“ von Solschenizyn im Gefängnis gelesen. Ein wundervolles Buch, aber sehr deprimierend und brutal.“ Das habe ihm gezeigt, dass er auch an einem schlimmeren Ort sein könnte: “Ich könnte auf einer sibirischen Krebsstation sein und Krebs haben, zum Beispiel.“ Die beiden tauschen sich über ihre Methoden der Zeitstrukturierung in der Haft aus. Ibrahim betont die Bedeutung der Sympathie, die ihm von dem Gefängnispersonal bei den wenigen Begegnungen (unter Überwachungskameras) entgegengebracht wurde. Der intensive Leser strahlt etwas zurück von dem Geist seiner Lektüre. „Ehrlich gesagt“, gesteht Ibrahim aber lachend, „habe ich auch manchmal stundenlang unter der Dusche Songs von den Beatles und Elvis Presley gesungen.“ Draußen demonstrierten hunderttausende für sie – doch nur der intensive Leser wird selbst zum Teil der Menschheitsgeschichte.

Hansjörg Rothe ist Mitglied im FDA LV Thüringen.

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