Bis in die 1970er Jahre gab es den völliger Vergessenheit anheimgefallenen Begriff der „Enthüllungstheorie“, der das bezeichnete, was man heute als „Verschwörungstheorie“ kennt. Habermas zum Beispiel schrieb damals noch von Nietzsche als einem „Enthüllungstheoretiker“. Botho Strauss berichtet in seinem autobiographischen Buch „Herkunft“, sein geistig in irgendeinem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs steckengebliebener Vater habe in den 1950ern ein Periodikum selbst verfasster Texte auf eigene Kosten drucken lassen und unter dem Titel „Enthüllungen“ an Freunde und Bekannte verteilt. Begriffe können also nicht nur räumliche Grenzen definieren – erinnert sei nur an die Tischler-Schreiner-Grenze, die ebenso wie die Metzger-Fleischer-Grenze irgendwo im Thüringisch-Fränkischen verläuft – sondern auch zeitlich. Können solche Begriffsepochen auch unvermutet wiederkehren? Dann leben wir jetzt dank Angela Merkel wieder in der Epoche der „Staatsräson“, die eigentlich aus dem Barock stammt und im 19. Jahrhundert völlig vergessen war. Joseph von Eichendorff schreibt 1866, dass „die sogenannte ‚Staatsraison‘ ein diplomatisches Schachspiel verhüllter Intentionen“ war, die „in der Politik an die Stelle der christlichen Moral“ getreten sei. Er stellt Herzog Anton Ulrich von Braunschweig (1633–1714) als literarischen Protagonisten der Staatsräson vor. Der Herzog, zunächst mit der Eroberung Braunschweigs und später dem Erwerb Kölns beschäftigt (wofür er den Glauben wechseln musste), schrieb später voluminöse Romane, in denen angeblich die „Hofräthsel“ der braunschweigischen Diplomatie allegorisch verschlüsselt dargestellt wurden. „Die durchleuchtige Syrerin Aramena“ war demnach ein Anon-Blog voller „drops“, die der Dechiffrierung harrten! Selbst Leibniz soll die Wälzer studiert und sich an den Spekulationen über die „Hofräthsel“ beteiligt haben. Leben wir also in barocken Zeiten? Die weltweite Community der Q-Anon-Entschlüssler weiß es vielleicht.
Hansjörg Rothe ist Mitglied im FDA LV Thüringen.