Horizont

von Theresa Möller

„Sehr geehrte Frau Lindwald, 

wir weisen Sie hiermit daraufhin, dass für die von Ihnen geplante Beherbergung geflüchteter Menschen aus den Klimagefährdungsregionen der Stufen IV und V, weitere Nachweise erforderlich sind. Es besteht eine Frist von 14 Tagen. Bitte reichen Sie die unten aufgeführten Unterlagen bis zum 10. März 2030 nach.“

 

Erneut überfliege ich die Liste an Bescheinigungen und stolpere über die Gehwegplatte, die von den Wurzeln der Angerlinde angehoben wird. Die gleiche Platte, die für die Narbe an meinem rechten Knie verantwortlich ist. Ich klammere mich an die dreiundzwanzig Seiten handbeschriebener Formulare und bewahre sie davor, über den Vorplatz der Gemeindeverwaltung zu flattern.

Sowohl vor als auch hinter der gläsernen Tür ist es für mich und meinen Wollmantel zu warm. Es ist März und ich kann mich nicht wehren gegen Omas Stimme in meinem Kopf, die sagt, ich solle mich warm anziehen. Aber es ist 2030 und März bedeutet nicht mehr dasselbe.

Am Verwaltungswegweiser suche ich mit zusammengekniffenen Augen das Zimmer, in dem vielleicht jemand sitzt, der sich nicht weigern wird, meine Unterlagen anzunehmen. Meine Gäste kommen in drei Wochen. Ich weiß, dass ich spät dran bin. 

Ich bin zu schnell für die Leute hier und zu langsam für das Leben jenseits des Horizonts.

Während ich noch immer die Zimmernummern studiere, drängt sich eine Hand in mein Sichtfeld.

„Hey, Lotte!“, flötet Henry, der mich breit angrinst wie damals in der Schule, wenn ich für ihn seine Aufsätze schreiben sollte. „Wie geht‘s?“

„Gut“, antworte ich abwesend, den Blick auf die Tafel geheftet. Zimmer 18, Migrationsbeauftragter. „Und dir?“ Oma sagte, ich soll nicht unhöflich sein.

Er wedelt mit ein paar losen Papieren vor meinem Gesicht herum.

„Bestens. Habe gerade die Baugenehmigung abgeholt.“ Sein Grinsen wird entgegen aller anatomischen Gesetze noch breiter.

„Für das ...?“

„Haus, genau. 225 Quadratmeter Wohnfläche. Nächsten Monat geht's los.“

Manchmal fühlt sich 2030 an wie 2012.

„Ganz schön groß für zwei“, nicke ich und denke an das Haus meiner Oma, das jetzt meins ist, irgendwie. Und irgendwie auch nicht, wenn ich es bald mit zwei fremden Familien teile. Weil 2030 ist, Flutwellen Inseln verschlucken und Sandwüsten Dörfer fressen.

„Tja, nicht jeder kann erben.“ Er hebt den Kopf so weit, dass er auf mich herabschauen kann. „Wir haben lang und hart dafür gearbeitet.“ 

Heute bin ich froh, als er geht. Damals war ich es nicht.

Mit Henrys Haus könnte ich eine Genehmigung für drei, vielleicht sogar vier Familien beantragen, denke ich auf dem Weg in den zweiten Stock. Zwanzig Menschen an einem sicheren Ort wären das. Vorerst sicher jedenfalls.

„Und Sie haben sich das gut überlegt?“, fragt mich der Verwaltungsangestellte, während er die Unterlagen durchblättert. „Das wird bestimmt ein Kulturschock.“

„Die Leute haben kein Zuhause. Ein Kulturschock dürfte ihr kleinstes Problem sein.“

Er zieht irritiert die Stirn in Falten, bis er versteht.

„Nein, nein, ich dachte an Sie und Ihre Nachbarn.“

Es ist 2030 und ich wünsche mir noch immer, der Horizont eines Schreibtischs wäre seltener die Grenze einer Welt.

Theresa Möller, geboren 1995, liebt es fantastische Welten zu erschaffen und durch Worte Wirklichkeit werden zu lassen. Im Zentrum ihrer Bücher und Geschichten stehen vor allem zwischenmenschliche Beziehungen, das Spannungsfeld zwischen Mensch und Umwelt sowie die Erforschung diverse Zukunftsszenarien. Nach ihrem Studium der Geografie ist sie inzwischen als Softwareentwicklerin tätig und lebt mit ihrer Familie in Jena. Seit 2016 hat sie mehrere Romane im Selbstverlag publiziert

Kontaktaufnahme

Bitte den Code eingeben:

Hinweis: Bitte die mit * gekennzeichneten Felder ausfüllen.