Die Neue Welt

von Jasmin Lincke

„Eine Neue Welt“, begrüßte sie ihn. 

„Eine Neue Welt.“

„Was hast du heute?“ Prüfend warf er einen Blick auf das Mikrodisplay, welches man ihm vor sechs Jahren in den Unterarm implantiert hatte.

„Maschinenhilfe, du?“

„Agrardienst“, antwortete seine Gegenüber, die den gleichen Overall trug wie er selbst. Grün war einst die Farbe der Hoffnung gewesen, heute stand sie für Neutralität. 

Er nickte. Früher hätte er gesagt: „Mein Beileid“, doch Sarkasmus und Geplänkel gehörten der Vergangenheit an. In der Neuen Welt gab es dafür keinen Platz.

Teilnahmslos rückte er weiter und fand sich diesmal einem Mann gegenüber.

„Eine neue Welt … “ - Dasselbe Spiel von vorn. Erneut ein Wechsel, dann noch einer und noch einer. Sechzig Minuten. Jeden Morgen. Das nannten sie „die Stunde der Begegnung“. Soziale Interaktion. Fast hätte er geschnaubt. Als würde sich irgendwer auf dem Appellplatz tatsächlich wahrnehmen. 

Ein kleiner Stromstoß in seinem Arm erinnerte ihn, dass seine Konzentration abschweifte und er zwang sich langsamer zu atmen, um seine Vitalwerte zu beruhigen. Es hatte eine Weile gedauert, bis er gelernt hatte, die Technik zu überlisten, aber inzwischen gelang es ihm ganz gut.

Sobald die einstudierten Konversationen vorüber waren, nahm er den Schnellzug in Richtung Maschinenraum. Während die klinisch reine Stadt an ihm vorbeiraste, beobachtete er die Gebäude hinter der Scheibe.

Alles hatte 2024 begonnen - als die Welt den Bach runtergegangen war. Damals hatten sie geglaubt, es bliebe Zeit, ehe sich Rohstoffgier und Klimawandel rächen würden. Er selbst war davon ausgegangen, der Super-GAU läge in ferner Zukunft, sodass er ihn nicht mehr erleben würde. Wie sehr man sich doch täuschen konnte. Wie schnell die Dinge sich änderten …

Hungersnöte hatten überhandgenommen, Epidemie ganze Nationen dahingerafft und Anarchie den Rest getan. Am schwärzesten Tag der Menschheit waren die Regierungen gezwungen gewesen, den globalen Notstand auszurufen. Ein Konzept, das Experten im Verborgenen erarbeitet haben mussten, war kompromisslos umgesetzt worden und hatte unzählige Leben gekostet.

Seitdem wohnte er in Gamma-Pi, einer von tausend identisch erbauten Hightech-Städten, voll von Computerstimmen, falschen Lächeln und Anonymität. Man hatte darauf geachtet, dass die Einwohner eines Bezirks sich nicht aus der Zeit vor der Katastrophe kannten - um Konfliktpotenzial zu vermeiden, hieß es. Familien hatte es somit auseinandergerissen und Grenzen waren aufgelöst worden, um neue zu erschaffen. Bundesländer gab es nicht mehr. Nicht einmal Staaten. Nur noch die Neue Welt.

Er stieg aus dem Zug und betrat die „Halle der Maschine“. Augenblicklich umfing ihn Hitze und ein Wächter scannte seinen Chip. 

Die Maschine war der einzige Grund, dass sie überhaupt noch existierten. Durch sie war es möglich gewesen, die Erderwärmung zu stoppen und die Welt in einen sauberen Ort zu verwandeln. Da sie mit Muskelkraft betrieben wurde, schwang er sich in den Sattel eines Fahrradergometers, um wie Hunderte seines Distriktes zu schwitzten. 

Eigentlich durfte er sich nicht beschweren, dachte er, während er gleichmäßig in die Pedale trat. Er gehörte zu den Wenigen, die überlebt hatten. Grimmig betrachtete er den Bildschirm unter seiner Haut. 

Doch was nützte das, wenn er nicht frei war? 

Jasmin Lincke, geboren 1999, ist eine junge Autorin aus Jena. Sie liebt es, Geschichten zu erträumen, damit zu berühren, zu faszinieren oder andere zum Lachen zu bringen.

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