Der letzte Tag

von Frank Hönl

Sigi schiebt den Schraubendreher in die Seitentasche seiner Latzhose und blickt zufrieden auf den fertiggestellten Aktenschrank. Perfekt. Das helle Holz wirkt freundlich, die Beschläge sitzen sauber und die umlaufenden Fugen: Ein Traum. Er streicht mit den Händen über die maserige Oberfläche. Hervorragende Arbeit. Er hat es rechtzeitig hinbekommen und ohne Kais Hilfe. Wo bleibt der eigentlich? Ist doch nicht so schwer, wenigstens ein Mal pünktlich zu sein. Er stemmt die Hände in die Hüfte, blickt sich in der Werkstatt um und will sie schon verlassen, als Kai auftaucht. Der hebt entschuldigend die Arme.

»Bin wieder zu spät.«

»Wie immer.«

Die Fäuste der Männer stoßen zusammen. Kai lehnt sich ein Stück zur Seite und schaut an Sigi vorbei.

»Fertig?«

»Fertig.«

»Schon komisch, jetzt arbeiten seit Jahren angeblich alle im Homeoffice und die hier können sich vor Bestellungen von Firmenmobiliar nicht retten. Manchmal denke ich, wir sind die Einzigen auf der Welt, die noch oldschool unterwegs sind.«

Beide bewundern das massive Möbelstück.

»Da hast du es gerade so geschafft«, bemerkt Kai und schlägt ihm auf die Schulter.

»Ja, mein letzter Tag heute.«

»Seit wann biste dabei?«

»2022.«

»Acht Jahre. Kommst du überhaupt klar ohne das hier?«, Kai macht eine ausschweifende Handbewegung und beide sehen sich in der Werkstatt um. Die meisten Maschinen sind im Einsatz. Überall wird gesägt, gehobelt, gebohrt und geklebt.

»Werd’s verschmerzen.«

»Schon konkrete Pläne?«

Sigi zieht die Schultern nach oben.

»Mir endlich was von der Welt ansehen.«

»Die Öffis sind seit Jahren kostenlos. Kannste fahren ohne Ende.«

»Erstmal bei Gerda melden.«

»Oh ja. Wann hast du sie das letzte Mal gesprochen?«

»Ist ne Weile her. Würde ich gern drauf verzichten. Muss aber sein.«

»Sie wird dir schon sagen, wo’s lang geht. Bei mir hat’s damals nicht funktioniert.«

»Du hättest besser zuhören sollen, statt sie anzubaggern.«

»Ich bin eben nur ein Mann. Ist ein natürlicher Reflex. Außerdem mag ich reifere Frauen.«

Sigi lacht und Kai setzt ein überzogenes Grinsen auf.

»Wär es anders gelaufen, hätten wir uns nicht kennengelernt.«

»Stimmt auch wieder«, entgegnet Sigi. »Ich schieb mal ab. Muss den organisatorischen Kram regeln. Kommst du nachher nach vorne?«

Kai atmet tief durch und schaut auf die Stahlkappen seiner Arbeitsschuhe.

»Ich überleg’s mir.«

Sigi lacht.

»Schon klar.«

Die beiden schütteln sich die Hände.

»Bestell Gerda nen schönen Gruß von mir.«

»Ich bin doch nicht lebensmüde.«

»Ach ja, und denk immer hier dran.«

Kai deutet auf die kleine Narbe auf seinem Handrücken.

»Werde es nicht vergessen.«

 

Drei Stunden später steht Sigi auf der Straße. In der einen Hand die Reisetasche, in der Anderen eine abgegriffene Visitenkarte. Er wirft einen Blick darauf, »Gerda Polger, Rechtsanwältin und Bewährungshilfe, Erfurt«, und schaut sich um. Ein öffentliches Telefon finden, war schon vor acht Jahren eine Herausforderung. Verlorengehen kann er nicht. Er reibt den Handrücken und fragt sich, ob das GPS-Chip-Implantat unter seiner Haut bereits einen roten Punkt auf einen Bildschirm erzeugt.

Frank Hönl ist ein Düsseldorfer Autor von Kurzgeschichten und Erzählungen. Auf seinen Streifzügen lässt er sich durch die Werke von Stephen King und Michael Crichton inspirieren.

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